Pressemitteilung zu den Angriffen in Berlin 2017

Die Zahlen extrem rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Berlin sind gesunken. Dennoch kein Grund zur Entwarnung.

Rassismus ist das häufigste Motiv.

ReachOut, die Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, verzeichnet 267 Angriffe für das Jahr 2017. Das ist ein erfreulicher Rückgang um fast 30% der Gewalttaten und massiven Bedrohungen im Vergleich zu 2016. Rassismus steht als Tatmotiv im Vordergrund. Trotz des Rückgangs insgesamt, finden im Wohnumfeld von Betroffenen genauso viele Angriffe wie 2016 statt. Mindestens 374 Menschen werden verletzt und bedroht.

Berlin, 13. März 2018

Insgesamt erfasst ReachOut 267 Angriffe für das Jahr 2017 (2016: 380). Mindestens 374 (2016: 553) Menschen werden verletzt, gejagt und massiv bedroht. Darunter sind 22 Kinder. Rassismus bleibt mit 140 Taten das häufigste Motiv in Berlin (2016: 233). Die LGBTI-feindlichen Angriffe sind konstant hoch mit 67 Taten (2016: 70). Die Attacken und Bedrohungen gegen politischen Gegner*innen sind gestiegen. Gegen sie richteten sich 40 Angriffe (2016: 32). Zudem sind die antisemitisch motivierten Gewalttaten von 31 auf 13 gesunken.

In den Jahren 2015 und 2016 mussten wir mit 320 und 380 Taten die höchsten Angriffszahlen seit Bestehen von ReachOut registrieren. Für das zurückliegende Jahr verzeichnen wir erstmals keinen weiteren Anstieg der Gewalttaten und der massiven Bedrohungen.

Bei den meisten von ReachOut dokumentierten Angriffen handelt es sich um gefährliche Körperverletzungen (106), Körperverletzungen (102) und massive Bedrohungen (46).

Am auffälligsten ist der Rückgang der rassistisch motivierten Taten um fast 48 %. Hier sehen wir einen Zusammenhang damit, dass kaum noch Aufmärsche und Kundgebungen gegen Geflüchtete und deren Unterkünfte 2017 stattgefunden haben und diese auf wenig Resonanz trafen. Das zeigt einmal mehr, wie eng der Zusammenhang zwischen den lokalen rassistischen Mobilisierungen und den gewalttätigen Angriffen gegen Personen ist.

"Einen Grund zur Entwarnung sehen wir leider nicht", so Sabine Seyb, die Sprecherin für ReachOut. "Denn der Rückgang rassistischer Gewalt kann unterschiedlich Gründe haben. Möglicherweise bewegen sich potenzielle Opfer dieser Angriffe vorsichtiger im öffentlichen Raum, um sich selbst zu schützen."

Ein Beispiel rassistischer Gewalt aus unserer Chronik:

Am 12. August, gegen 19.00 Uhr, wird ein unbekannter Mann im Hauptbahnhof von einem Mann aus rassistischer Motivation geschlagen und getreten. Währenddessen wird das Opfer von zwei Sicherheitsmitarbeitern festgehalten. Zeuginnen greifen ein und rufen die Polizei. Die Bundespolizei nimmt die Personalien des Angreifers auf.*

Wir gehen, ähnlich wie das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum e.V. (apabiz), auch davon aus, dass sich die sogenannten Wutbürger*innen und organisierten Neonazis durch die Präsens der AfD in den Parlamenten offenbar gut vertreten fühlen und sich Forderungen und Proteste direkt an die Parteien in Bundestag und Abgeordnetenhaus richten. So wurden Aktionen und Kundgebungen nach Mitte, rund um den Bundestag, verlagert.

Verstärkt in den Fokus der Neonazis geraten Aktivistinnen und Politikerinnen, die sich öffentlich gegen Rechtspopulismus und Rassismus positionieren.

Die meisten Angriffe finden nach unseren Erkenntnissen in den innerstädtischen Bezirken statt.

Die LGBTI-feindlichen Taten (67) geschehen meistens in Neukölln, Schöneberg, Tiergarten und Mitte. Dabei handelt es sich um die Bezirke, in denen es Treffpunkte und Partymöglichkeiten gibt und die Betroffenen davon ausgehen, dass sie sich frei bewegen können.

Im Bezirk Mitte (mit den Stadteilen Mitte: 19, Tiergarten: 15 und Wedding: 26) finden insgesamt 60 (2016: 68) und somit stadtweit die meisten Angriffe statt. Davon sind 22 der Gewalttaten rassistisch motiviert. In Neukölln verzeichnet ReachOut 36 (2016: 38) Angriffe.

Weitere Angriffsschwerpunkte liegen in Friedrichshain (18), Charlottenburg (16), Marzahn und Schöneberg (je 15), Kreuzberg und Treptow (je 14).

Die meisten Gewalttaten finden im öffentlichen Raum statt: 114 Angriffe (2016: 135) werden auf Straßen und Plätzen verübt. An Haltestellen, Bahnhöfen und in öffentlichen Verkehrsmitteln geschehen 61 Gewalttaten und Bedrohungen (2016: 87).

Auf nahezu gleichem Niveau wie 2016 bleiben die Taten im unmittelbaren Wohnumfeld der Opfer und solche, die sich gegen Personen richten, die gegen Neonazis, Rechtspopulismus und Rassismus aktiv sind. Vor allem betroffen von den Angriffen im Wohnumfeld sind politische Gegner*innen, die ausgespäht werden und deren Wohnadressen in den Fokus von Neonazis geraten. In Neukölln fanden 14, in Wedding 8 dieser massiven Bedrohungen statt. Hierbei handelt es sich offensichtlich um gut vorbereitete Aktionen von Neonazis. Allein in den Nächten des 7. und des 8. Feruar sind in Wedding und Neukölln mindestens 13 Hausfassaden und Eingangsbereiche mit den Namen von Personen beschmiert worden, die in diesen Häusern leben.

Um zu verstehen, dass die massiven Bedrohungen und Brandanschläge gegen politische Gegnerinnen in Neukölln keine neuen Entwicklungen sind, lohnt ein Rückblick auf die Angriffssituation in den vergangenen 10 Jahren. Dann zeigt sich, dass Antifaschistinnen schon sehr lange vor allem in Neukölln im Fokus von Neonazis stehen. Auch bezüglich der rassistisch motivierten Gewalt war und ist die Situation in Neukölln auffällig. In der Rückschau auf die vergangenen Jahre war die Zahl der Angriffe vergleichbar mit den Stadtteilen Marzahn oder Lichtenberg. Nicht vegessen werden sollte, dass es bereits 2008 Brandanschläge auf Wohnhäuser von Migrant*innen im südlichen Neukölln gegeben hat. Der Mord an Burak Bektas vor 5 Jahren ist bis heute nicht aufgeklärt. Luke Holland wurde aus extrem rechten Motiven ebenfalls in Neukölln ermordet.

"Gleichzeitig haben sich im Bezirk in den vergangenen Jahren sehr aktive Bündnisse gegen Rassismus und Rechtsextremismus gegründet. Deren Aktivist*innen lassen sich nicht einschüchtern, sondern wehren sich konsequent und solidarisch gegen die Angriffe und Bedrohungen”, so Sabine Seyb von ReachOut. "Der Beschluss der BVV, dass die Taten im Bezirk endlich als Terror bezeichnet werden sollten und dementsprechend ermittelt werden muss, ist zu begrüßen."

Weitere Einzelheiten zu den Angriffszahlen entnehmen Sie bitte der Tabelle “Rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Berlin".

Darin geben wir einen Rückblick auf die Entwicklungen der letzten 10 Jahre.

Weiterhin finden Sie in der Chronik zum Jahr 2017 einige Grafiken oder auf der Seite Rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Berlin 2007-2017

Für Rückfragen und Interviewes stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

Sabine Seyb
Tel.: 030-695 68 339
Mobil: 0170-4265020

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