ReachOut nimmt Stellung zum Prozess und Urteil vom 27. April gegen die Angreifer*innen von Dilan S.

Der Rassismus, den Dilan S. während des Angriffs am 5.2. 2022 erfahren musste, setzt sich im Gerichtssaal fort. Berlin, 28.April 2023

Die Solidarität von Aktivist*innen und Initiativen mit Dilan S. war groß, Kundgebungen haben während des Prozesses stattgefunden und Unterstützer*innen haben das Verfahren gegen die Angreifer*innen konsequent und an allen Prozesstagen beobachtet. Dilan S. wurde begleitet und unterstützt. Auch das Medieninteresse war groß. Das ist außergewöhnlich und wäre doch unbedingt notwendig bei jedem einzelnen dieser Prozesse.

Dilan S. hat das ganz allein geschafft. Sie war es, die trotz ihrer Todesangst den Angriff auf sie gefilmt hat. Sie hat die Polizei gerufen. Passant*innen, die die Schläge, Beleidigungen und Tritte von sechs Angriffer*innen beobachteten, haben dabei nicht geholfen. Diejenigen, die eingreifen wollten, wurden von einem der Täter davon abgehalten.

Dilan S. war es, die sich an die Öffentlichkeit gewandt hat. Nicht etwa, weil ihr das Spaß gemacht hätte, so wie es einige der Angeklagten behaupten. Die Polizei hatte in einer ersten Pressemeldung den Angriff völlig falsch dargestellt und Dilan S. eine Mitschuld gegeben. Diese Darstellung wurde von den Medien ohne eigene Recherchen unhinterfragt übernommen. Diese Demütigungen musste Dilan S. nach dem brutalen Angriff ertragen . Sie hat sich gewehrt. Und nur durch ihre Kraft, ihre berechtigte Wut und ihren Mut gelang es ihr, ihre Wahrheit und die Bilder der Tat der Definitionsmacht von Polizei und Medien entgegenzustellen. Bis zum heutigen Tag hat sich die Polizei nicht bei Dilan S. entschuldigt. Schon allein dies ist ein Skandal.

Sechs erwachsene Täter*innen (teilweise einschlägig vorbestraft) beleidigten, schlugen und traten eine Jugendliche und bezeichnen sie dann vor Gericht als diejenige, die Schuld an dem Angriff gewesen sei. Die Angeklagten stellten Dilan S. in einer rassistischen und sexistischen Sprache als die eigentliche Aggressorin dar. Sie habe provoziert und keinen Respekt vor ältern Menschen gezeigt.

Ihre brutale Tat reflektieren müssen die Angeklagten nicht. Das Gericht erlaubt es ihnen vom Prozess und der Urteilsverkündung fernzubleiben.

Dilan S. ist während des Prozesses erneut mit Rassismus, Sexismus und mit einem Gericht konfrontiert, das eine Opfer-Täter Umkehr nicht nur zulässt, sondern bisweilen für glaubwürdig zu halten scheint.

Bis zum Schluss wird das rassistische Motiv der Tat verharmlost. Das Gericht bezweifelt die psychischen und körperlichen Folgen der Tat. So wird von Seiten des Gerichts kommentiert, dass ein Angriff mit einem Baseballschläger schlimmere Folgen gehabt hätte. Eine vorliegende psychologische Stellungnahme wird ignoriert. Das Gericht wiederholt mehrmals einige der demütigenden Beleidigungen, die Dilan S. während des Angriffs ertragen musste. Mehr noch, es bagatellisiert diese Äußerungen. Zeug*innen, die die Aussagen von Dilan S. bestätigen, werden nicht ernst genommen und ihre Glaubwürdigkeit in Frage gestellt.

Das Geschehen im Gerichtssaal und die Prozessführung ist ein dritter Angriff auf Dilan S.. Die Folgen der Tat trägt sie als Betroffene und tragen ihre Angehörigen, nicht die Angreifer*innen.

Die können sich durch dieses Urteil (Bewährunsstrafen, Geldstrafen und Freisprüche für zwei der Angeklagten) in ihrem rassistischen, menschenverachtenden Handeln bestätigt fühlen. Andere Rassist*innen, die wie die Angeklagten zuschlagen, werden durch die Prozessführung und die Urteile ermutigt. Der Vater von Dilan S. hat am letzten Verhandlungstag, nachdem die Plädoyers gehalten wurden, zurecht gefragt, wer die nächsten Opfer schütze, wenn die Täter*innen wieder zuschlagen.

Allein die Staatsanwaltschaft wendet sich während des Plädoyers an Dilan S. und betont, dass sie das Opfer, nicht die Täterin sei. Und dass die Tat eindeutig rassistisch war.

Wie sich Opfer rechter, rassistischer oder antisemitischer Gewalt und Bedrohung zu verhalten haben, was sie als Opfer glaubwürdig macht, bestimmen vor allem Ermittlungsbehörden und Gerichte: Ängstlich, wehrlos, leise und verzweifelt sollen sie sein. Opfer, die sich wehren, denen es trotz aller schwerwiegenden Folgen einer solchen Tat gelingt, öffentlich ihre Perspektive darzustellen, sind unbequem und müssen damit rechnen, so wie in diesem Prozess, nicht ernst genommen, als nicht wirklich glaubwürdig diffamiert zu werden. Das ist Teil der Logik, die institutionellen Rassismus prägt.

Dilan S. hat alles richtig gemacht. Ihr gehört unsere Solidarität und unser Respekt.

Für ReachOut bleibt nach einem solchen Verfahren der Zweifel, ob und wie es möglich ist, Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in der Beratung zu ermutigen, den Weg einer juristischen Aufarbeitung zu gehen.

Der institutionelle Rassismus in der Justiz, der Rassismus im Gerichtssaal muss endlich thematisiert und unterbunden werden. Schließlich geht es darum, Betroffene vor weiteren Traumatisierungen und Demütigungen zu schützen.

Sabine Seyb, ReachOut

Für Rückfragen:
030-69568339
0170-4265020

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