Auf in die nächsten 10 Jahre! Interview mit Rıza Baran

Auf in die nächsten 10 Jahre!

Interview mit Rıza Baran [aus der ReachOut-Broschüre 'Rückblicke-Praen-Perspektiven' anlässlich des 10-jährigen Bestehens]

Rıza Baran ist Mitglied von Bündnis 90 / Die Grünen und kämpft seit Jahrzehnten in Berlin und darüber hinaus gegen Rassismus und für Demokratisierung. Sabine Seyb sprach mit ihm über seine reichhaltigen Erfahrungen und mögliche Perspektiven.

Wenn du die Entwicklungen hinsichtlich des Rassismus gegenwärtig in Deutschland betrachtest, was hat sich seit Anfang der 1990er Jahre verändert?

Bis zum Mauerfall 1989 dominierte sowohl in der BRD als auch in der DDR die Auffassung, dass es nach dem Sieg gegen den Nationalsozialismus 1945 und infolge der jeweiligen Entnazifizierungen keinen relevanten Rassismus mehr in Deutschland gäbe. Dabei wurde ausgeblendet, dass während des Kalten Krieges oft auf Ex-Nazis zurückgegriffen wurde und die Entnazifizierung längst nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen konsequent durchgeführt worden war. Außerdem wurde verdrängt, dass die zugrunde liegende deutsch- bzw. europazentrierte autoritäre Ideologie aus vielen Köpfen natürlich immer noch nicht verschwunden war. Sie wurde zwar auf den Ost-West-Konflikt umgedeutet, aber die 68er-Bewegung war ja auch eine Antwort auf diese informell weiterhin existierende soziokulturelle politische Psychologie im Wirtschaftswunderland. Und schon nach der ersten kleinen konjunkturellen Wachstumsdelle 1966/67 konnte die NPD bei einer Wahl erfolgreich sein.

Auch in der DDR waren diese autoritären Persönlichkeitsstrukturen nicht nachhaltig beseitigt worden, da die offen rassistische Stellungnahme einfach nur verboten wurde und sich so im privaten Bereich festsetzen und ausbreiten konnte. Und außerdem wurde die DDR durch autoritär strukturierte Führungen regiert, die empathisch gar nicht in der Lage waren, die althergebrachten Einstellungen und Verhaltensweisen abzubauen. Diese beiden Stränge brachen sich nach 1989 in der umjubelten Euphorie der neuen nationalen Einheit ihre Bahn, wie ein Fisch im Wasser auflebt.

Durch die falsche Politik (z.B. bezüglich der Integration der Arbeitsmigrant_innen) und die Verdrängungen seit 1945 in der BRD und der DDR war die deutsche Öffentlichkeit nach dem Mauerfall völlig überrascht von der Wucht der radikalen nationalen Eruption und es dauerte bis 1998, diese Welle in den Griff zu bekommen. Die negativen Folgen für Arbeitsmigrant_innen und Flüchtlinge haben wir alle noch vor Augen.

Seit wann bist du gegen Rassismus aktiv?

Mal von der Situation zwischen Türk_innen und Kurd_innen in meinem Herkunftsland abgesehen, engagiere ich mich gegen Rassismus seit ich 1963 nach Deutschland gekommen bin. Denn sobald man als Migrant_in hier ankommt, wird man auch mit Rassismus konfrontiert und muss sich damit auseinandersetzen. Wie schon eben erwähnt, führte die erste kleinere Rezession 1966/67 schon dazu, dass aufgrund der gestiegenen Erwerbslosigkeit viele Arbeitsmigrant_innen von damals wieder ausgewiesen wurden. Überhaupt basierte das deutsch-türkische Abkommen zuerst auf dem rassistischen Hintergrund, dass man keine Einwanderung wollte und deshalb die Arbeitsmigrant_innen nur eine begrenzte Zeit nach Deutschland kommen sollten, um dann wieder durch andere Arbeitsmigrant_innen ersetzt zu werden.

Im Laufe der Zeit, auch infolge des neuen antiautoritären Zeitgeistes seit 1968 und durch einen kräftigen Schub durch die Streikwelle Anfang der 1970er Jahre, gründeten sich immer mehr Initiativen und Selbsthilfegruppen, um die Lebensumstände von Migrant_innen zu verbessern. Viele hatten ihre Familien nachgeholt, es gab die ersten „Ausländerbeiräte" und vor allem der Anwerbestopp von 1973 machte schlagartig klar, dass man sich wehren musste. Denn unter der Oberfläche führten die aufgezählten Punkte in der deutschen Bevölkerung zur Zunahme von Ressentiments.

Insofern war ich schon vor 1989 im weitesten Sinne antirassistisch politisch aktiv – schließlich ist das Thema, wie das der Integration, ein Querschnittsthema. Diese Arbeit zog sich die ganzen 1990er Jahre hindurch und hatte ihren ersten Erfolg mit der Anerkennung der Bundesrepublik als offiziellem Einwanderungsland durch die Bundesregierung 1998.

Gab es ein besonderes Ereignis, das dich besonders geprägt hat in deinem politischen Engagement gegen Rassismus?

Als erstes muss ich da die Entwicklung der Diskussionen erwähnen, die ich fast tagtäglich in den 1970er Jahren mit meinen Kolleg_innen in der Gewerkschaft hatte (IG Chemie). Es war ein harter Kampf, die Köpfe dafür zu öffnen, dass die BRD faktisch ein Einwanderungsland geworden war! Und damit zusammenhängend möchte ich zweitens erwähnen, dass es für mich schon sehr früh klar war, dass die Arbeitsmigrant_innen hier bleiben würden, dass damit die Frage der Integration auf die Tagesordnung gehörte, während gleichzeitig Assimilationsforderungen eine Sackgasse waren. Aber diese Analysen und Schlussfolgerungen mussten immer wieder neu in die Diskussionen eingebracht werden und sie sind auch heutzutage immer noch ein Thema. Konkret prägende Ereignisse waren natürlich die rassistischen Pogrome Anfang der 1990er Jahre und die Anti-Asylrechtstendenzen der damaligen Zeit.

Du warst Abgeordneter bei Bündnis 90 / Die Grünen und Vorsteher in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) in Friedrichshain-Kreuzberg. Wo siehst du Möglichkeiten, wo die Grenzen parlamentarischer Politik?

Die Entwicklung hin zum Parlamentarismus war historisch natürlich ein demokratischer Fortschritt. Man kann dort auf einer Plattform, die im Fokus der Öffentlichkeit steht, Inhalte und Probleme thematisieren, Lösungen vorschlagen und versuchen, die Parlamentsmehrheiten zu überzeugen und sinnvolle Gesetze zu beschließen. Aber um eine Gesellschaft wirklich zu demokratisieren und um sie offener und toleranter zu machen, bedarf es mannigfacher Initiativen und Gruppen von selbstbewussten Bürger_innen, die ihre Macht nicht nur an die Parlamente delegieren wollen, sondern die sich selbst verantwortlich für die Entwicklung ihrer Gesellschaft fühlen. Deshalb ist es für eine_n Parlamentarier_in notwendig, den Kontakt zu diesen Basisinitiativen und den Menschen zu erhalten, um sozusagen ein Ohr am Puls der Zeit zu haben. Denn nur so lassen sich Probleme frühzeitig erkennen und nachhaltige Lösungen entwickeln. Diese Form der vorparlamentarischen Durchlässigkeit ist allerdings – und da müssen wir sehr wachsam bleiben – durch den unkontrollierten Einfluss der Lobbygruppen in Verruf geraten.

Welche Perspektiven siehst du hinsichtlich des Kampfes gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus?

Generell muss man sich klarmachen, aus welchen Grundbedingungen sich Rassismus speist und welche Funktion er in einer Gesellschaft hat. Die beiden entscheidenden Variablen für die Entstehung von Rassismus sind Vorurteile und institutionelle Macht. Letztere kann durch eine aufmerksame Öffentlichkeit eingegrenzt werden. Rassismus als kulturelles Phänomen basiert auf den vier Bausteinen Naturalisierung, Homogenisierung, Polarisierung und Hierarchisierung. Wird dieses gesellschaftliche Verhältnis im politischen Kontext umzusetzen versucht, kann man von Rechts_extrem_ismus sprechen.

Die betreffenden und zu beobachtenden Institutionen einer Gesellschaft, in denen sich Rassismus verankern und reproduzieren kann, sind die Medien, das Bildungssystem, der Arbeitsmarkt, die Politik, die Justiz und die Exekutive (Polizei). Vorurteile entstehen, wenn vermeintliche oder tatsächliche gesellschaftliche Probleme existieren, woraufhin bestehende horizontale Unterschiede zwischen den Menschen instrumentalisiert werden, um eine nachhaltige Problemlösung zu verhindern (Beispiel Erwerbslosigkeit). Oft werden dadurch Privilegien verteidigt und bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen oder nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlossen.

Also, im Vergleich zum Anfang der 1990er Jahre konnte die extreme Welle der nationalistischen Eruption gemindert werden. Trotzdem zeigen gerade die Vorgänge und Entdeckungen um die Morde durch extrem Rechte in den letzten Wochen, dass dort nicht nur viel zu tun ist, sondern, dass die Zivilgesellschaft höllisch aufpassen muss, dass sich keine politisch-atmosphärischen Strukturen in der Bevölkerung verfestigen, die eine Gefahr für die Demokratie mit sich bringen könnten.

Zweitens ist es in Zeiten von Welthandel, Globalisierung und der zunehmenden Notwenigkeit, viele Probleme der Menschheit global zu lösen, unumgänglich, sich zu einer offenen Gesellschaft zu entwickeln, in der Rassismus keinen Platz hat. Im Unterschied zum Anfang der 1990er Jahre möchte ich schließlich erwähnen, dass der heraufbeschworene, angebliche und vor allem kulturell begründete Gegensatz zwischen Orient und Okzident mit seiner antimuslimischen Leit(d)kulturdiskussion genauso bekämpft werden muss, wie seinerzeit die national-ethnische Welle. Vor all diesen Hintergründen gibt es – wie Frau Merkel sagen würde – zur fortschreitenden Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft keine Alternative.

Zusammengefasst heißt das für Deutschland, dass in den entscheidenden gesellschaftlichen Bereichen der Medien, des Bildungssystems, des Arbeitsmarkts, der Politik, der Justiz und der Exekutive ein Entrassifizierungsprogramm notwendig ist. In diesem Sinne wünsche ich ReachOut viel Kraft, Unterstützung und Erfolg für die nächsten zehn Jahre!

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