Keine „richtige“ Identität für die Berufsschule? - Gastbeitrag von Sanchita Basu bei Arrivo Berlin

Rassismus, Antisemitismus, LGBTQI*-Feindlichkeit – die Diskriminierung von Menschen aufgrund eines ihnen zugeschriebenen Merkmals hat viele Gesichter. In Berlin unterstützt die Beratungsstelle ReachOut in Trägerschaft des ARIBA e.V. die Betroffenen und bietet dabei auch rassismuskritische, intersektionale Bildungsprogramme an. Wir konnten Geschäftsführerin Sanchita Basu für einen Gastbeitrag über rassistisches Mobbing in Berufsschulen gewinnen.

Hannes ist ein Hochschulabsolvent, der sich anstatt für einen Job für eine Ausbildung entschied. Die Entscheidung war theoretisch eine gute Überlegung, aber in der Realität änderte sich sein Leben, das bis dahin eher gewöhnlich verlief, durch diese vermeintlich „gute Entscheidung“.

Die anderen Azubis bekamen seine „wahre“ Identität mit. Er ist kein „richtiger“ Deutscher, denn er ist ja „Jude“. Hannes war nicht daran interessiert, anderen seine Identität mitzuteilen, weil er schon als Kind es zu spüren bekam, dass er nicht die „richtige“ Identität besitzt. Seine Mitschüler*innen wussten das, haben es aber trotzdem nicht für sich behalten. Sie haben Hannes mit allen Mitteln gemobbt. Die Lehrer*innen und die Leitung suchten wie in den meisten Fällen von Mobbing die Verantwortung bei Hannes. Sie meinten zum Beispiel: „er hebt sich von den anderen Auszubildenden ab“, „er ist ein Alleingänger“, „er ist nicht an Gruppenarbeit interessiert“ und so weiter. Hannes wurde zu einem Problemfall, der irgendwie bewältigt werden musste.

Als ein Mitschüler in einer Englischarbeit schrieb, Hannes’ Geburtsort sei „Auschwitz“ und sein Geburtsjahr „1945“, bezeichnete der zuständige Lehrer dies als eine Neckerei, die keine politische Gesinnung ausdrücke. Die Reaktion von Hannes jedoch, der daraufhin einen Beschwerdebrief an die Schulleitung schrieb, bewertete derselbe Lehrer als „übertrieben“.

Bevor Hannes unsere Beratungsstelle ReachOut aufsuchte, hatte er bereits mehrere Schritte selbst unternommen: Er hatte neben dem Beschwerdebrief an die Schulleitung auch ein Gespräch mit seinem Ausbilder geführt. In den Augen seiner Schulleitung war das jedoch kein guter Schritt gewesen, da Hannes sich dadurch in der Berufsschule weiter isoliert habe.

Verharmlosung an der Tagesordnung

Die Verharmlosung solcher Situationen ist an der Tagesordnung nicht nur in Berliner Berufsschulen. Die Argumentationen mit denen das Lehrpersonal häufig agiert und ihre Verantwortung abgibt, ähneln sich so sehr, dass man denken würde, dass es dafür ein Lehrbuch gäbe.

Rassismus und Antisemitismus haben sowohl politisch-historische, als auch psychologisch-gruppendynamische Ursachen. Aus politisch-historischen Gründen dient Rassismus vor allem der Rechtfertigung von Machtansprüchen und der Unterdrückung bestimmter Gruppen. Die psychologisch-gruppendynamischen Ursachen resultieren eher aus dem Bedürfnis, sich nach außen abzugrenzen, um Zusammengehörigkeit und ein Gemeinschaftsgefühl zu fördern. Die Tendenz, andere aus rassistischer, antisemitischer oder LBTQI-feindlicher Motivation auszuschließen – ein Ausschluss, der sich bis zur seelischen und körperlichen Gewalt steigern kann – ist eine Gefahr, die meist zu spät erkannt und die fast immer von den Verantwortlichen bagatellisiert wird. Die Schüler*innen haben wenig Möglichkeit, sich mit anderen Gruppen zusammenzuschließen und den Pöbeleien auszuweichen.

Die Workshops, die ReachOut mit Schüler*innen von Berufsschulen durchführte, zeigten, dass Schüler*innen eher bereit waren über eigenes diskriminierendes Verhalten zu reflektieren. Demgegenüber wehrte sich das Lehrpersonal oft gegen eine Mitverantwortung und hielt am eigenen positiven Selbstkonzept fest. Gleichzeitig wurden die Mobbingopfer oft beschuldigt, indirekt mitschuld an ihrer Situation zu sein. Wie Hannes erfahren viele von Mobbing betroffene Schüler*innen, dass  mit „ihnen etwas nicht stimmt“, und dass sie „ruhig bleiben“ und nicht „überreagieren“ sollen. Man empfiehlt ihnen, sich zu ändern. Die Ironie dabei: Wie ändert mensch eine nicht „richtige“ Identität?

Es gab auch Schulen, in denen Schulleiter*innen und Lehrer*innen interessiert waren, rassistisches Mobbing zu thematisieren und zwar nicht nur für die Schüler*innen, sondern auch für das Lehrpersonal. Jedoch trugen einzelne Lehrer*innen diese Absichten nicht immer mit. Mit einem unkritischen Selbstkonzept sahen sie Ausgrenzungsmechanismen von Mobbing nicht, sondern problematisierten eine vermeintliche Auffälligkeit der betroffenen Schüler*innen. Dann wurde beispielsweise die Erziehung von Eltern ins Feld geführt, das Leben in einer Patchworkfamilie oder in einer religiösen Familie. Hier übertrugen Lehrer*innen den Eltern die „eigentliche” Verantwortung für Probleme in der Schule, einschließlich Mobbing.

Wirksame Interventionen

ReachOut plädiert seit langem dafür, dass in Schulen die Antidiskriminierungsarbeit intensiviert und wirksame Beschwerdestellen eingerichtet werden sollten.

Es geht dabei nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, mithilfe einer angemessenen Kommunikation zwischen allen Beteiligten den Tunnelblick von Lehrer*innen erweitern zu helfen. Dazu führte ReachOut in Kooperation mit PowerMe Eltern-Workshops durch.

Ein wichtiger erster Schritt in Fällen von rassistischem Mobbing wäre, die eigenen Strukturen, Routinen und Praxen kritisch unter die Lupe zu nehmen, anstatt die Verantwortung bei den betroffenen Schüler*innen und ihren Familien zu suchen. Dabei auf die Unterstützung von außerschulischen Fachkräften zu vertrauen und den Prozess anzunehmen, sind unverzichtbare Kompetenzen einer professionellen Haltung.

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