Namhafte Vertreter*innen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft kritisieren das geplante Neuköllner Projekt einer Registerstelle für konfrontatives Religionsverhalten

Der Verein Demokratie und Vielfalt (DEVI e.V.) plant mit Unterstützung der Neuköllner Bezirksverwaltung eine „Anlauf- und Dokumentationsstelle konfrontative Religionsbekundung“ einzurichten. Lehrkräfte sollen dort die Möglichkeit haben, Vorfälle von „konfrontativer Religionsbekundung“ zu melden. Zahlreiche renommierte Expert*innen und Fachverbände bescheinigen dem Konzept gravierende Mängel und wenden sich gegen die Einführung einer entsprechenden Registerstelle.

Die Vertreter*innen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft haben eine Stellungnahme zu dem Neuköllner Projekt veröffentlicht. Zu den Erstunterzeichnenden gehören u.a. die langjährigen ehemaligen Staatssekretäre für Bildung und Inneres Mark Rackles und Aleksander Dzembritzki, renommierte Erziehungswissenschaftler*innen wie Prof. Dr. Micha Brumlik und Prof. Dr. Maisha Auma, die Berliner Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der Antidiskriminierungsverband Deutschland und die Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus. Auch prominente Vertreter*innen aus Zivilgesellschaft und Kultur unterstützen die Forderungen der Expert*innen. So etwa der NSU-Opferanwalt Mehmet Daimagüler und der international vielbeachtete Intendant der Komischen Oper Barrie Kosky.
Die Expert*innen kommen zu der Einschätzung:

  • Die geplante Registerstelle wird eher zu einer Verschärfung von Konflikten führen als zum Schulfrieden beizutragen.

  • Der Begriff der „konfrontativen Religionsbekundung“ ist zu unscharf und deshalb ungeeignet, schulische Konflikte in Zusammenhang mit religiös gefärbtem Konformitätsdruck und Mobbing zu adressieren.

  • DEVI hatte zur Ermittlung des Bedarfs zuvor zehn Interviews mit Neuköllner Schulen durchgeführt und in Form einer Bestandsaufnahme veröffentlicht. Das methodische Vorgehen wird von den unterzeichnenden Forscher*innen als unwissenschaftlich kritisiert.

  • Zudem legt das Projekt den Verdacht nahe, dass damit schulische Konflikte für politische Interessen instrumentalisiert werden sollen.

Die Definition von „konfrontativer Religionsbekundung“, die dem Projekt zugrunde liegt, weist erhebliche Schwächen auf. „Es wird der subjektiven Wahrnehmung von Lehrkräften überlassen, was als ‚konfrontativ' zu bewerten sei und was nicht“, heißt es in der Stellungnahme. So gibt DEVI in seiner Bestandsaufnahme zum Beispiel Aussagen von Lehrkräften wider, die unhinterfragt als Beleg für „konfrontatives“ religiöses Verhalten und Anzeichen einer möglichen Vorstufe von Radikalisierung gesehen werden. Als „konfrontative Religionsbekundung“ gilt demnach schon, wenn „nicht einmal Jungen mit Jungen nackig duschen wollen“. In der bisherigen Berichterstattung wurden einzelne Zitate aus der Studie herausgegriffen und skandalisiert, obwohl das Interviewmaterial ein deutlich vielschichtigeres Bild der Konflikte zeichnet.

Die Unterzeichner*innen stellen dabei ausdrücklich klar, dass es selbstverständlich reale Konflikte an Schulen gibt, die mit „religiösem Konformitätsdruck, widerstreitenden Werthaltungen, religiös aufgeladenem Mobbing oder gar ideologischer Radikalisierung“ zusammenhingen. „Auch in Neuköllner Klassenzimmern sind – wie in der gesamten Gesellschaft – Fälle von Antisemitismus, Homo- und Transfeindlichkeit oder Sexismus ein ernstzunehmendes Problem.“ Lehrkräfte, die überfordert sind, müssen in jedem Fall Unterstützung erhalten. Die vielschichtigen Ursachen für diese Probleme müssen aber fachkundig und differenziert untersucht werden, um Lösungen zu finden, die Lehrkräfte tatsächlich unterstützen.
Denn der von SPD-Bezirksbürgermeister Martin Hikel und CDU Bezirksstadtrat Falko Liecke beschworene „Hilferuf“ aus der Praxis stellt sich in den von DEVI geführten Interviews mit Neuköllner Schulleiter*innen ganz anders dar: „zu viel Arbeit, zu wenig Kapazität.“ Nicht eine einzige Schule in dem Bericht fordert (fragwürdige) Registerstellen oder Studien. Gefordert werden stattdessen zum Beispiel „ausreichend ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher‘“. Die Ergebnisse der Bestandsaufnahme stützen insofern nicht die Pläne des Bezirksamtes.
Die Unterzeichnenden sind zudem besorgt über die politische Instrumentalisierung schulischer Konflikte durch das Projekt. Der Geschäftsführer des Vereins ist zugleich Sprecher der Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz und hat in dieser Funktion eben diese Registerstelle gefordert. Damit sollen für den Gang zum Bundesverfassungsgericht im Streit um das Neutralitätsgesetz „gerichtsfeste“ Beweise gesammelt werden, dass der Schulfrieden in Berlin nicht nur in zu prüfenden Einzelfällen, sondern in aller Regel durch religiöse Konflikte gefährdet sei. Eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens machte das BVerfG 2015 zur Auflage für Kopftuchverbote. Diese politische Motivation wird von dem Verein nicht geleugnet, sondern pädagogisch verteidigt. Entsprechend enden alle von DEVI e.V. durchgeführten Interviews mit der suggestiven Frage nach einer Definition des Schulfriedens. Diese trägt nichts zur symptomatischen Erhebung von Konflikten bei und kann nur verfassungsrechtlich geklärt werden. Das kommt einem politischen Interessenkonflikt gleich, der mit einer unabhängigen wissenschaftlichen Erhebung unvereinbar ist und besonders der Clearing Funktion widerspricht, die der Verein für eine Registerstelle übernehmen müsste. „Eine solche politische Instrumentalisierung schulischer Konflikte ist pädagogisch unverantwortlich, ganz gleich wie man sich zum Neutralitätsgesetz oder zur gesellschaftlichen Debatte um den sog. ‚Politischen Islamismus‘ im Einzelnen positioniert. Das verkehrt Neutralität als zentralen Wert staatlichen Handelns ins Gegenteil“, schreiben die Unterzeichner*innen in der ausführlichen Stellungnahme.
Abseits der methodischen und konzeptionellen Mängel besitzt das Vorhaben von DEVI e.V. aufgrund seines unbestimmten Verständnisses konfrontativer Religionsbekundung ein großes Stigmatisierungspotential. Dies wird nicht zuletzt auch daran deutlich, dass sich die AfD von dem DEVI-Projekt begeistert zeigt und die Einrichtung einer Registerstelle vehement unterstützt. So werden nach Ansicht der Expert*innen Radikalisierungsprozesse befördert und nicht früher identifiziert.

Die ausführliche Stellungnahme mit allen Erstunterzeichnenden und den sieben Forderungen finden Sie im Anhang.

Kontaktperson: Sanchita Basu, Reach Out / ARIBA e.V.
sanchita_basu@reachoutberlin.de.

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