Pressemitteilung zu den Angriffen in Berlin 2020

2020 werden in Berlin fast täglich extrem rechte, rassistische und antisemitische Angriffe begangen. Rassismus ist das häufigste Motiv.
Trotz Pandemie und Lockdown dokumentiert ReachOut 357 Taten.

ReachOut, die Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, verzeichnet mit 357 Angriffen für das Jahr 2020 leider nur einen leichten Rückgang im Vergleich zum Vorjahr. 2019 musste ReachOut 390 Angriffe und damit die höchsten Zahlen seit Bestehen des Projektes bekannt geben.

Mindestens 493 Menschen wurden im vergangenen Jahr verletzt und bedroht.

Berlin, 9. März 2021

Insgesamt erfasst ReachOut 357 Angriffe für das Jahr 2020 (2019: 390). Mindestens 493 (2019: 509) Menschen werden verletzt, gejagt und massiv bedroht. Darunter sind 37 Kinder und 28 Jugendliche. Dazu mussten 15 Kinder miterleben, wie ihre Angehörigen oder Freund*innen geschlagen, getreten und gestoßen wurden.

“Wir hatten für das Jahr 2020 damit gerechnet, dass die Angriffe deutlich nachlassen”, so Sabine Seyb, von ReachOut. “Schon aufgrund der Pandemie und der Tatsache, dass sich weniger Menschen im öffentlichen Raum bewegen und aufhalten, sind wir nicht von einer so hohen Zahl von Angriffen ausgegangen”, so Sabine Seyb weiter.

Auch 20 Jahre nach der Gründung von ReachOut zeigt sich leider, dass sowohl die Beratung und Unterstützung der Betroffenen als auch das berlinweite Monitoring notwendig bleiben. Aufgrund der hohen Angriffs- und der steigenden Beratungsanfragen, muss das fachspezifische Angebot von ReachOut ausgebaut werden.

Mit 196 Taten sind fast 55% der Angriffe rassistisch motiviert (2019: 219 von 390).

Von den insgesamt 196 rassistisch motivierten Taten wissen wir, dass mindestens 20 Angriffe antimuslimisch motiviert sind, sich 31 gegen Schwarze Menschen und 5 gegen Sinti und Roma richten.

Ein Beispiel aus unserer Chronik:

Am 13. Juni wird in Kreuzberg ein Mann, der in Begleitung eines anderen Mannes ist, in der U-Bahnli- nie 7 von einem Unbekannten aufgrund antiziganistischer und homophober Motivation bedroht. Der Unbekannte hindert die beiden Männer am Aussteigen und schlägt dem Mann verschiedene Dinge aus der Hand. Auf dem U-Bahnhof Yorckstraße versucht der Angreifer ihn zu schlagen und mit einer Zigarette zu verbrennen. Die beiden Männer werden bis in eine Bar, in die sie sich flüchten, verfolgt. Später erstattet der Mann Anzeige bei der Polizei.

93 Taten wurden aus LGBTIQ*-feindlichen Motiven begangen (2019: 105). Die antisemitischen Gewalttaten sind mit 28 nahezu gleich geblieben (2019: 31). Die Zahl der Attacken und massiven Bedrohungen gegen politische Gegner*innen sind ebenfalls gleich geblieben. Gegen sie richteten sich 18 Angriffe (2019: 17). Zudem erfuhr ReachOut von 13 Bedrohungen und Angriffen gegen Journalist*innen.

Bei den meisten Angriffen handelt es sich um Körperverletzungen (179), gefährliche Körperverletzungen (118) und massive Bedrohungen (53). Zudem mussten wir eine schwere Körperverletzung dokumentieren

Ein Beispiel aus unserer Chronik:

In der Nacht des 7.1.2020 wird einem 45-jährigen wohnungslosen Mann, der im Vorraum einer Bankfiliale in der Otto-Suhr-Allee schläft, das Hosenbein angezündet. Der Mann erleidet schwere Brandverletzungen.

Die meisten Angriffe finden in den innerstädtischen Bezirken statt.

Im Bezirk Mitte (mit den Stadteilen Mitte: 28, Wedding: 20 und Tiergarten: 12) finden insgesamt 60 (2019: 97) und somit stadtweit die meisten Angriffe statt. Hier ist gleichzeitig der stärkste Rückgang der Angriffe zu beobachten. Die häufigsten Tatmotive sind dort: Ras- sismus mit 33 Angriffen und LGBTIQ*-Feindlichkeit mit 19 Taten.

In Neukölln dokumentiert ReachOut 34 (2019: 56) Angriffe. Häufigste Motive: Rassismus und LGBTIQ*-Feindlichkeit (je 15).

Die meisten Gewalttaten in Kreuzberg (17 von 30) und Schöneberg (7 von 13) und richten sich ebenfalls gegen die sexuelle Identität oder Orientierung der Betroffenen.

Weitere Angriffsschwerpunkte dokumentieren wir in den Stadtteilen Charlottenburg (25), Friedrichshain (22), Spandau (21), Prenzlauer Berg und Hohenschönhausen (je 17), Reinickendorf (16) Treptow und Marzahn (je 15).

Wir haben von 17 massiven Bedrohungen im Internet erfahren. Es handelt sich meistens um Todesdrohungen gegen Journalist*innen und Politiker*innen.

155 Angriffe werden auf Straßen und Plätzen verübt (2019: 136). An Haltestellen, Bahnhöfen und in öffentlichen Verkehrsmitteln geschehen 78 Gewalttaten und Bedrohungen (2019: 111).

Trotz des leichten Rückgangs der Angriffszahlen sind die Taten im direkten Wohnumfeld mit 32 Angriffen gleich hoch geblieben.

Die Angriffe, die Betroffene in ihrem direkten Wohnumfeld erleiden, sind so besorgniserregend, weil es sich für die Betroffenen um einen geschützten Raum handeln sollte. Einem Angriff voraus gehen häufig wiederholte Beleidigungen und andere Einschüchterungs- und Verdrängungsversuche. Es handelt sich bei den Täterinnen meistens um Nachbarinnen. Sie sind einfach zu identifizieren und gehen offenbar davon aus, keine Konsequenzen für ihr Handeln fürchten zu müssen.

So wird am 7. August in Tempelhof ein Mann von einem Nachbarn in der Hilbertstraße im Treppen- haus eines Mietshauses rassistisch motiviert beleidigt und geschlagen.

Sabine Seyb zur Entwicklung der Angriffszahlen: Das Team von ReachOut ist beunruhigt über die Höhe der Angriffszahlen trotz der Pandemie und der beiden Lockdowns. Obwohl im vergangenen Jahr sichtbar weniger Menschen in der Stadt unterwegs waren, ausgehen konnten und die öffentlichen Verkehrsmittel weniger genutzt wurden, geschahen soviele brutale Angriffe. Dies deutet darauf hin, dass die Aggressivität und die Enttabuisierung bezüglich der Gewalt auf ausgegrenzte und diskriminierte Bevölkerungsgruppen weiter zunimmt.

2020 wurde deutlich, wie die Berichterstattung über die Pandemie, die häufig illustriert wurde mit Fotos von asiatisch gelesenen Menschen, die politischen Debatten und die Beleidigungen und Angriffe, die aufgrund von antiasiatischem Rassismus verübt wurden, ineinander greifen. Institutioneller Rassismus und rassistisch geprägte Debatten tragen dazu bei, dass täglich rassistische Gewalt geschieht. Die Täter*innen fühlen sich in ihrem Handeln bestärkt und ermutigt.

Am 29.2. sitzen sieben Personen, unter ihnen befinden sich auch Menschen, die asiatisch gelesen werden, gemeinsam in einem Café in der Kopenhagener Straße (Prenzlauer Berg). Sie werden aus ei- ner anderen Gruppe heraus aus rassistischer Motivation mit einem Corona-Bezug beleidigt und bedroht. Die Angreifer*innen versuchen, eine der Personen zu schlagen. Sie kann kann dem Angriff aus- weichen.

Die antimuslimisch motivierten Morde in Hanau hatten keinen ausschlaggebenden Wendepunkt in der Politik zur Folge. Die Mechanismen sind immer wieder gleich. Auf erste Betroffenheitsbekundungen und Versprechungen der politisch Verantwortlichen, folgt ein Zurück zur Routine.

ReachOut fordert einen Stopp von öffentlichkeitswirksamen Razzien gegen Shisha-Bars. Diese werden von den Täter*innen als Hinweisreize verstanden. Auch das hat Hanau gelehrt.

Es muss endlich eine langfristige Beschäftigung mit möglichen Handlungsstrategien im Berliner Abgeordnetenhaus geben, die jede Form von Rassismus auf allen Ebenen berücksichtigt. Insbesondere sollte der institutionelle Rassismus dabei in den Blick genommen werden, so die Forderung von ReachOut. Bei der Entwicklung solcher Handlungsstrategien und deren Umsetzung ist die Einbeziehung von Initiativen und Vereinen aus den Communities die wichtigste Voraussetzung.

Schließlich: Es gab auch 2020 keine Fortschritte bei der Aufklärung der Straftaten im Zusammenhang mit dem Neuköllnkomplex.

ReachOut zitiert an dieser Stelle aus dem offenen Brief der Initiative BASTA. Sie kritisieren die Ergebnisse des Zwischenberichtes der Kommission zur Überprüfung der bisherigen Ermittlungsmaßnahmen zur Aufklärung der rechtsmotivierten Straftatenserie in Neukölln vom 21.02.2021:

"Der Zwischenbericht vom 21.02.2021 ist ein Schlag ins Gesicht für Engagierte, Geschädigte, Initiativen und die Presse. Er sagt uns, NAZIS haben nichts zu befürchten; Engagement gegen rechten Terror lohnt sich nicht. Unser Anliegen wird nicht ernst genommen – oder anders gesagt, es gibt dieses Anliegen gar nicht. (...)"

Der Kritik von BASTA schließt sich ReachOut an.

Weitere Einzelheiten zu den Angriffszahlen entnehmen Sie bitte der Pressemappe, den darin enthaltenen Grafiken und der Tabelle “Rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Berlin". In der Tabelle geben wir einen Rückblick auf die Entwicklungen der letzten 10 Jahre. Zudem finden Sie in der Pressemappe das Handout von Toan Nguyen zu antiasiatischem Rassismus und den offenen Brief der Initiative „BASTA“.

Für Rückfragen und Interviews stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

Sabine Seyb

Tel.: 030-695 68 339, Mobil: 0170-4265020

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