Pressemitteilung: Rassistische, rechte und antisemitische Angriffe in Berlin 2021

Täglich werden in Berlin extrem rechte, rassistische und antisemitische Angriffe begangen. Nur ein Teil dieser Taten wird öffentlich bekannt. Rassismus ist das häufigste Motiv. Für 2021 musste ReachOut 353 Angriffe dokumentierten.

ReachOut, die Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, verzeichnet mit 353 Angriffen für das Jahr 2021 keinen Rückgang im Vergleich zum Vorjahr. 2020 musste ReachOut 357 Angriffe bekannt geben.

Mindestens 620 Menschen, soviele wie nie zuvor, wurden im vergangenen Jahr verletzt und bedroht.

Berlin, 4. Mai 2022

Insgesamt erfasst ReachOut 353 Angriffe für das Jahr 2021 (2020: 357). Mindestens 620 (2020: 493) Menschen wurden verletzt, massiv bedroht und gedemütigt. Darunter sind 51 Kinder und 44 Jugendliche. Dazu kommen mindestens 13 Kinder, die mit anschauen mussten, dass ihre erwachsenen Begleitpersonen geschlagen wurden.

“Dass die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendliche so angestiegen ist, lässt auf eine erschreckende Brutalität der Täter*innen schließen”, so Sabine Seyb, von ReachOut. “Kinder werden im öffentlichen Raum von fremden Erwachsenen gestoßen, angeschrien und geschlagen, am häufigsten aus rassistischen Motiven.”

Ein Beispiel aus unserer Chronik:

Am 27. Februar 2021 wird ein 12-jähriges Kind, das in Begleitung eines 8-järigen Kindes ist, in Charlottenburg von zwei Frauen aus rassistischer Motivation geschlagen. Eine der Frauen ruft die Polizei und löst mit falschen Informationen einen Großeinsatz unterschiedlicher Poli- zeien aus.

Am 8. September wird in Mitte ein Kind aufgrund von antischwarzem Rassismus beleidigt und angegriffen.

Mit 219 Taten sind über 60% der Angriffe rassistisch motiviert (2020: 196 von 357).

Von den insgesamt 219 rassistisch motivierten Taten wissen wir, dass mindestens 10 Angriffe antimuslimisch motiviert sind und sich 28 gegen Schwarze Menschen richten.

Ein Beispiel aus unserer Chronik:

Am 26. November wird in Lichtenberg ein 32-jähriger Mann, der in Begleitung seiner 1-jähri- gen Tochter ist, vor dem Eingang der Volkshochschule in der Paul-Julius-Straße von einer 38-jährigen Frau aufgrund von antischwarzem Rassismus beleidigt und mehrmals bespuckt.

47 Taten wurden aus LGBTIQ*-feindlichen Motiven begangen (2020: 93). Hier beobachten wir einen starken Rückgang. Die antisemitischen Gewalttaten sind mit 24 nahezu gleich geblieben (2020: 28). Die Zahl der Attacken und massiven Bedrohungen gegen politische Gegner*innen ist gestiegen. Gegen sie richteten sich 27 Angriffe (2020: 18). Zudem erfuhr ReachOut von 17 Bedrohungen und Angriffen gegen Journalist*innen. Gegen obdachlose Menschen richteten sich 10 Gewalttaten.

Bei den meisten Angriffen handelt es sich um Körperverletzungena (177), gefährliche Körperverletzungen (132) und massive Bedrohungen (28). Zudem mussten wir zwei schwere Körperverletzung dokumentieren:

Auffällig ist, dass sich die Angriffe gegen Obdachlose offenbar durch eine besondere Brutalität auszeichnen. Es handelt sich 2021 immer um gefährliche Körperverletzungen, um eine schwere Körperverletzung und eine Brandstiftung.

Ein Beispiel aus unserer Chronik:

Am 27.7. 2021 wird in Wedding einem 31-jähriger obdachlosen Mann im Volkspark Humboldthain von einem 23-jährigen Mann die Gehhilfe entwendet. Damit schlägt der Angreifer den 31-Jährigen mehrfach gegen Kopf und Körper und verletzt ihn schwer. Zeug*innen rufen die Polizei und erkennen den Täter in der Nähe wieder.

Die meisten Angriffe finden in den innerstädtischen Bezirken statt.

Im Bezirk Mitte finden insgesamt 61 (2020: 60) und somit stadtweit die meisten Angriffe statt.

Die meisten Gewalttaten in Friedrichshain-Kreuzberg (25 von 55) sind rassistisch motiviert. 15 Angriffe richten sich dort gegen die sexuelle Identität oder Orientierung der Betroffenen.

In Neukölln dokumentiert ReachOut 36 (2020: 34) Angriffe. Häufigstes Motiv: Rassismus (22).

Weitere Angriffsschwerpunkte dokumentieren wir in den Bezirken Pankow (35) Lichtenberg (32), Charlottenburg-Wilmersdorf (26) und Tempelhof-Schöneberg (23).

Ein wichtiges Thema in unserer Beratung sind die Angriffe, die Betroffene in ihrem direkten Wohnumfeld erleiden müssen. Eltern und ihre Kinder werden aus rassistischen Motiven, bedroht, gequält, geschlagen und kriminalisiert. Die Folgen für die Betroffenen sind fast immer schwerwiegend, weil die Wohnung und das direkte Umfeld ein Ort ist, der als geschützt und sicher empfunden wird. Gleichzeitig ist es ein Ort, der sich nicht meiden lässt. Einem körperlichen Angriff voraus gehen häufig wiederholte Beleidigungen und andere Einschüchterungs- und Verdrängungsversuche. Bei den Täter*innen handelt es sich meistens um Nachbar*innen. Vermieter*innen bleiben allzuoft untätig. Zudem gehen die Täter*innen immer wieder soweit, dass sie mit falschen Anschuldigungen die Polizei rufen und das Jugendamt einschalten.

Ganze Familien werden so traumatisiert. Der einzige Ausweg ist dann unter großen finanziellen Belastungen zu versuchen, eine andere Wohnung zu finden.

Zwei Beispiele:

So wird am 20. Februar in Pankow ein Mann von zwei männlichen Nachbarn rassistisch be- leidigt und körperlich angegriffen. Vorher wurden auf seine Wohnungstür rassistische Parolen geschrieben, sein Name wurde vom Briefkasten entfernt, Briefe wurden gestohlen und zerrissen, Müll wurde auf seinen Balkon geworfen und er wurde mit Lärm belästigt. Beim zweiten Angriff wurde ihm die Nase gebrochen.

In der Nacht des 24. auf 25.12.2021 feiern in Reinickendorf 3 Schwarze Familien mit ihren Kindern gemeinsam Weihnachten. Ein Nachbar ruft die Polizei wegen Lärmbelästigung. Als die Polizei eintrifft, machen die Mieter*innen die Musik sofort leiser. Dennoch kommt die Poli- zei ungefähr eine Stunde später noch einmal. Mit ca. 10 Polizist*innen und einem Hund, ver- schaffen sie sich gewaltsam Zutritt zur Wohnung. Die Besucher*innen werden mit Gewalt aus der Wohnung gebracht, beleidigt und durchsucht. Die Erwachsenen müssen die nacht in einer Polizeiwache verbringen und ihre Kinder vom Kindernotdienst in Obhut genommen. Als die Erwachsenen am nächsten Morgen freigelassen werden, fehlt bei der Rückgabe der beschlagnahmten Gegenstände ein hochwertiger Ohrring, ein Ausweis und Geld. Die Kinder haben bis heute große Angst, sobald sie die Polizei sehen und sind stark verunsichert.

Sabine Seyb zur Entwicklung der Angriffszahlen: “Insbesondere die rassistisch motivierten Angriffe geschehen täglich und bleiben zahlemmäßig auf einem erschreckend hohen Niveau. Zudem gehen wir davon aus, dass wir nur einen Bruchteil von dem erfahren, was rassismusbetroffene Menschen in Berlin tatsächlich ertragen müssen. So berichten Ratsuchende, die aufgrund rassistischer Gewalt zu ReachOut kommen, in den Beratungsgesprächen häufig auch über länger zurückliegende Erfahrungen und über institutionellen Rassismus.”

Wie eng der institutionelle Rassismus mit den Gewalttaten verknüpft ist, zeigt sich beispielsweise an den Kontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn diese auf Racial Profiling beruhen und eskalieren. Deswegen unterstützt ReachOut die Kampagne “BVG - Weil wir uns fürchten”, die 2021 gegründet wurde. Die Kampagne macht auf einem Instagram-Account rassistische und brutale Angriffe von Sicherheitspersonal und BVG- Kontrolleur*innen auf Fahrgäste öffentlich.

ReachOut fordert, dass im Berliner Abgeordnetenhaus eine Enquete-Kommission gegen Rassismus eingesetzt wird. “Dies würde eine langfristige Auseinandersetzung mit jeder Form von Rassismus auf allen Ebenen ermöglichen. Insbesondere sollte der institutionelle Rassismus dabei in den Blick genommen werden”, so Sabine Seyb. “Bei der Entwicklung von Handlungsstrategien und deren Umsetzung sei die Einbeziehung von Initiativen und Vereinen aus den diversen Communities die wichtigste Voraussetzung”, betont die Vertreterin von ReachOut.

Ein guter Anfang wäre es, endlich eine unabhängige Beschwerdestelle gegen rassistisch motivierte und andere Polizeigewalt einzurichten. Wie dringend geboten dies ist, wissen wir aus unserer täglichen Arbeit. Denn ReachOut ist auch für die Beratung von Opfern rassisti- scher Polizeigewalt und von Racial Profiling zuständig.

ReachOut fordert außerdem, dass es ein sicheres Bleiberecht für alle Betroffenen rechter, rassistischer Gewalt geben muss. Aktueller Anlass, um diese Forderung zu bekräftigen, ist der Prozess gegen Stefan K., der am 06.05.2022 fortgesetzt wird. Der Polizist war bis 2016 bei der Berliner Polizei in der Ermittlungsgruppe Rechtsextremismus (EG Rex) tätig und An- sprechperson für Betroffene der rechten Anschläge in Neukölln. Im April 2017 hatte er mit zwei anderen Tätern einen geflüchteten Mann aus Afghanistan rassistisch motiviert geschla- gen. Obwohl das Strafverfahren gegen die Täter noch nicht abgeschlossen war, ließ der da- malige Innensenator Andreas Geisel den gesundheitlich stark angeschlagenen Jamil Amadi (Alias-Name) im März 2020 nach Afghanistan abschieben. Ihm muss eine Rückkehr nach Berlin ermöglicht werden. Ein sicherer Aufenthalt und Entschädigungszahlungen sind gebo- ten und wären das richtige Signal gegenüber den Tätern.

Das berlinweite Monitoring wurde für uns im vergangenen Jahr erheblich erschwert. Die Ermittlungsbehörden stellen keine Informationen mehr zur Verfügung. Nur wenige Gewalttaten mit einem extrem rechten, rassistischen oder antisemitischen Hintergrund werden von der Polizei als Pressemeldung veröffentlicht. Die Einbeziehung der polizeilichen Erkenntnisse in unsere Auswertung wird so nahezu unmöglich. Als Grund für die neue Informationspolitik der Ermittlungsbehörden werden datenschutzrechtliche Bestimmungen und eine mögliche Gefährdung nicht abgeschlossener Ermittlungen genannt.
Wir fordern, dass die zur Zeit übliche Praxis geändert wird, damit ReachOut möglichst viele Betroffene zeitnah erreichen und ein umfassendes, aussagekräftiges Monitoring auch in Zukunft gewährleisten kann.

Weitere Einzelheiten zu den Angriffszahlen entnehmen Sie bitte der Pressemappe, den darin enthaltenen Grafiken und der Tabelle “Rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Berlin". In der Tabelle geben wir einen Rückblick auf die Entwicklungen der letzten 10 Jahre. Gerne weisen wir auf die Broschüre unserer Kolleg*innen der Berli- ner Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt „Fair mieten – Fair wohnen“ mit dem Titel Diskriminirung in Nachbarschaften hin.

Für Rückfragen und Interviews stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

Sabine Seyb

Tel.: 030-695 68 339, Mobil: 0170-4265020

Für Fragen und Interviewtermine zu Rassismus in Nachbarschaften:

Biplab Basu
0176-21650737

Katsiaryna Olszewski
yekaterinachulkovskaya@gmail.com

Dr. Lina Sanchez-Steiner
lina.sanchez.steiner@fairmieten-fairwohnen.de
Remzi Uyguner
remzi.uyguner@fairmieten-fairwohnen.de

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