Pressemitteilung: 2019 stieg die Zahl der Angriffe in Berlin um 26% auf 390 Taten

Pressemitteilung

Fast jeden Tag werden mehrere extrem rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Berlin begangen. Rassismus ist das häufigste Motiv.
Die Zahl steigt auf 390 Taten und somit um mehr als 26 %.

ReachOut, die Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, verzeichnet mit 390 Angriffen für das Jahr 2019 einen traurigen Rekord für Berlin. Das ist ein Anstieg um 81 Gewalttaten und massive Bedrohungen im Vergleich zu 2018. Mindestens 509 Menschen werden verletzt und bedroht.

Berlin, 11. März 2020

Insgesamt erfasst ReachOut 390 Angriffe für das Jahr 2019 (2018: 309). Mindestens 509 (2018: 423) Menschen werden verletzt, gejagt und massiv bedroht. Darunter sind 32 Kinder und 31 Jugendliche. Dazu mussten 14 Kinder miterleben, wie ihre Eltern oder Freund*innen geschlagen, bespuckt und gedemütigt wurden.

Mit 219 Taten sind weit mehr als 55% der Angriffe rassistisch motiviert (2018: 167 von 309). Die LGBTIQ*-feindlichen Angriffe sind ebenfalls auf 105 Taten gestiegen (2018: 63). Die antisemitischen Gewalttaten sind von 44 auf 31 gesunken. Die Attacken und Bedrohungen gegen politischen Gegner*innen sind ebenfalls gesunken. Gegen sie richteten sich 17 Angriffe (2018: 23). Zudem erfuhr ReachOut von 10 Angriffen gegen obdachlose Menschen.

Für das zurückliegende Jahr verzeichnet ReachOut die höchsten Angriffszahlen seit der Gründung des Projektes in 2001.

Bei den meisten von ReachOut dokumentierten Angriffen handelt es sich um Körperverletzungen (219), gefährliche Körperverletzungen (121) und massive Bedrohungen (43). Zudem mussten wir 2 versuchte Tötungen dokumentieren:

Im September wird in Mitte auf einen 51-jährigen obdachlosen Mann, der auf einer Bank in der Panoramastraße schläft, von einem 53-jährigen Mann mit einem abgebrochenen Flaschenhals eingestochen. Der 51-Jährige wird verletzt.

Im Juni werden in Treptow in der Nacht zwei Schüsse auf die Wohnungstür einer geflüchteten Familie in Adlershof abgegeben. Die Metallkugeln bleiben in der Tür stecken. Zuvor wurde die Familie wiederholt rassistisch motiviert beleidigt. Zaun und Briefkasten wurden zerstört.

Von den insgesamt 219 rassistisch motivierten Taten wissen wir, dass 34 Angriffe antimuslimisch motiviert sind, sich 30 gegen Schwarze Menschen und 5 gegen Sinti und Roma richten.

Die meisten Angriffe finden in den innerstädtischen Bezirken statt.

Im Bezirk Mitte (mit den Stadteilen Mitte: 45, Wedding: 30 und Tiergarten: 22) finden insgesamt 97 (2018: 62) und somit stadtweit die meisten Angriffe statt. Die häufigsten Tatmotive sind dort: Rassismus mit 50 Angriffen, LGBTIQ*-Feindlichkeit mit 28 und Antisemitismus mit 8.

In Neukölln dokumentiert ReachOut 56 (2018: 43) Angriffe. Stadtweit die meisten LGBTIQ*feindlichen Taten (21) geschehen dort. 26 Angriffe sind rassistisch motiviert. 7 Taten in Neukölln richteten sich gegen politische *innen. Darunter auch eine Bedrohungsserie in der Nacht des 22. März, bei der in Nord-Neukölln extrem rechte Morddrohungen gegen namentlich erwähnte Bewohner*innen, die sich gegen rechts engagieren, gesprüht wurden.

Die meisten Gewalttaten in Schöneberg (16 von insgesamt 24) und Kreuzberg (13 von 30) richten sich ebenfalls gegen die sexuelle Identität oder Orientierung der Betroffenen. Dabei handelt es sich um die Bezirke, in denen es Treffpunkte und Partymöglichkeiten gibt und viele der Betroffenen davon ausgehen, dass sie sicher sind.

Darüber hinaus berichten uns Trans*Personen, dass gerade viele neue Clubs, Kneipen und Treffpunkte entstanden sind und die Szene ein neues Selbstbewusstsein entwickelt. Deswegen sind Trans*Personen auch sichtbarer in der Öffentlichkeit. Zuvor hat sich die Szene eher in privaten Räumen getroffen. Gerade in Neukölln lässt sich aber auch beobachten, dass sich die Betroffenen von LGBTIQ*-feindlichen Angriffen organisieren und zu Kundgebungen und Demos aufrufen.

Weitere Angriffsschwerpunkte dokumentieren wir in den Stadtteilen Friedrichshain (23), Lichtenberg (20), Köpenick (17), Treptow (15) und Pankow (12). Dort überall ist Rassismus das häufigste Motiv.

136 Angriffe werden auf Straßen und Plätzen verübt (2018: 139). An Haltestellen, Bahnhöfen und in öffentlichen Verkehrsmitteln geschehen 111 Gewalttaten und Bedrohungen (2018: 62).

Waren es 2018 insgesamt noch 71 Taten, die im direkten Wohnumfeld, dem Arbeitsplatz, in Kneipen, Supermärkten, bei Sport- und Freizeitveranstaltungen oder auch in Bildungstätten verübt wurden, verzeichnet ReachOut an diesen Orten für 2019 121 Taten.

Sabine Seyb schätzt die Entwicklung der Angriffszahlen mit Blick auf die Angriffsorte so ein: "Wir beobachten verstärkt eine Enttabuisierung und Enthemmung bezüglich der Gewalt auf ausgegrenzte und diskriminierte Bevölkerungsgruppen. Insbesondere wenn wir sehen, dass die Angriffe vermehrt in geschlossenen Räumen, wie dem direkten Wohnumfeld und anderen Orten, die nicht dem öffentlichen Raum zugerechnet werden können, stattfinden. Das ist deswegen so besorgniserregend, weil sich die Betroffenen dort bis dahin relativ sicher gefühlt haben. All dies sind Orte, an denen die Täter*innen leichter identifizierbar sind, als beispielsweise auf der Straße oder an Haltestellen. Dennoch gehen sie davon aus, mit ihrer Meinung und ihrem Handeln akzeptiert und sicher zu sein."

ReachOut befürchtet, dass die antimuslimisch motivierten Morde in Hanau kein Wendepunkt für die Politik sein werden. Die momentanen Betroffenheitsbekundungen der politisch Verantwortlichen, die eilig einberufenen Gesprächsrunden sind wohl, ähnlich wie nach der Selbstenttarnung des NSU, in einigen Wochen wieder vergessen.

Dabei sollten die öffentlich geführten rassistischen Debatten und der institutionelle Rassismus vor allem in den Ermittlungsbehörden, der Justiz und in den Bildungseinrichtungen benannt und gestoppt werden. Institutioneller Rassismus und die Handlungen, die daraus resultieren, tragen auch dazu bei, was auf den Straßen täglich an rassistischer Gewalt geschieht. Die Täter*innen fühlen sich in ihrem Handeln bestärkt und ermutigt. In den migrantischen Communities und Netzwerken wundern sich die Aktivist*innen nicht, dass der Täter in Hanau eine Shishabar ausgewählt hat. Denn durch die Art und Weise wie Razzien in Shishabars, beispielsweise in Neukölln, durchgeführt werden, entstehen Bilder einer Gefahr, die zutiefst rassistisch sind. Die Folge ist, dass ganze Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht geraten und der antimuslimische Rassismus weiter geschürt wird.

So schreibt beispielsweise die Autorin Seyda Kurt auf Twitter: "Eine Shishabar ist nicht irgendein Ort, sondern ein Raum für diejenigen, die aufgrund ihres Aussehens keinen Zugang zu anderen Orten haben, in Klubs beispielsweise nicht eingelassen werden."

"Statt sich wiederholende Betroffenheitsbekundungen von Politiker*innen und deren Appelle an die Zivilgesellschaft müssen langfristige Strategien gegen alle Formen von Rassismus auf den Weg gebracht werden", so Sabine Seyb.

Für Berlin fordert ReachOut eine Enquête-Kommission gegen Rassismus, in der Handlungsstrategien gemeinsam mit den Expert*innen aus den Communities, ihren Projekten und Vereinen entwickelt werden. Zudem muss dann auch die Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen konsequent durchgesetzt werden.

"Noch immer fehlt in der Berliner Staatsanwaltschaft eine Ansprechperson für diejenigen, die aus rassistischen Gründen Straftaten erleiden müssen. Das wäre angesichts der hohen Angriffszahlen ein klares Signal gegenüber den Täter*innen und ein erster Schritt in die richtige Richtung gegenüber den Opfern", so Sabine Seyb.

ReachOut fordert darüber hinaus mit den Betroffenen und den Aktivist*innen einen Untersuchungsausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus zu den Anschlägen und Morden in Neukölln. Dies wäre eine Chance, Transparenz in die Arbeit der Behörden zu bringen und die bisherigen Ermittlungen auf den Prüfstand zu stellen und kritisch zu hinterfragen.

Weitere Einzelheiten zu den Angriffszahlen entnehmen Sie bitte den Grafiken und der Tabelle "Rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Berlin". In der Tabelle geben wir einen Rückblick auf die Entwicklungen der letzten 10 Jahre.

Für Rückfragen und Interviews stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

Sabine Seyb

Tel.: 030-695 68 339, Mobil: 0170-4265020

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