Veröffentlichungen
Haushaltssperre bedroht den Kampf gegen Antisemitismus 12.12.2023
Bundesverband RIAS, OFEK und VBRG veröffentlichen offenen Brief an die Bundesregierung
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrter Herr Bundesminister Dr. Habeck,
sehr geehrter Herr Bundesminister Lindner,
sehr geehrte Frau Bundesministerin Paus,
sehr geehrte Frau Bundesministerin Faeser,
die fehlende Einigung auf den Bundeshaushalt 2024 bedroht die Demokratieförderung und den Kampf gegen Antisemitismus. Anfang Dezember hat das Bundesprogramm „Demokratie Leben!“ mitgeteilt, dass derzeit weder Förderzusagen noch Bescheide für einen vorzeitigen Maßnahmenbeginn für das Jahr 2024 bewilligt werden. Für die Träger und Projekte der Prävention, Dokumentation und Beratung bedeutet das die Einstellung ihrer Tätigkeit zum 1. Januar 2024. Unter diesen Umständen bleiben Betroffene von Antisemitismus erneut allein – Meldungen zu antisemitischen Vorfällen können nicht bearbeitet werden und Betroffene von Antisemitismus erfahren keine professionelle Unterstützung und Beratung. Das mühsam und langwierig aufgebaute Vertrauen zu den Betroffenen-Communities droht so, verloren zu gehen.
Das ist in der aktuellen Situation besonders bestürzend: Seit den Massakern der Hamas am 7. Oktober in Israel gibt es einen sprunghaften Anstieg antisemitischer Vorfälle in ganz Deutschland. Der Bundesverband RIAS e. V. dokumentierte zwischen dem 7. Oktober und 9. November 2023 eine Vervierfachung antisemitischer Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr. Die bundesweit agierende Beratungsstelle OFEK e. V. verzeichnet ein Beratungsaufkommen wie in keinem anderen Jahr seit ihrer Gründung. Im ersten Monat nach den Terrorangriffen hat sich die Inanspruchnahme der Beratung gegenüber dem Vorjahr verzwölffacht. Der Großteil der Beratungsanfragen bezieht sich auf antisemitische Vorfälle. Bei vielen Beratungsanfragen geht es zudem um mehrfache Belastungen durch den Terror und die Massaker in Israel sowie Antisemitismus hier in Deutschland. Auch die Betroffenen von anderen terroristischen Anschlägen wenden sich mit akuten Unterstützungsanfragen an die Beratungsstelle OFEK und die Opferberatungsstellen des VBRG e.V. Dabei handelt es sich um Betroffene des Attentats auf die Synagoge und den TeKiez in Halle (Saale) sowie zahlreiche weitere Betroffene antisemitischer Gewalt, die in Straf-, Sozialrechts- und Zivilrechtsverfahren begleitet werden.
Wenn wir zum 1. Januar 2024 die Arbeit einstellen müssen – weil wir keine Bescheide für einen vorzeitigen Maßnahmenbeginn erhalten – lassen wir nicht nur die Betroffenen allein, sondern können auch keine systematische Dokumentation des Antisemitismus in Deutschland mehr gewährleisten. Vorfälle können nicht ausgewertet werden, zentrale Projekte sind dauerhaft gefährdet, mehrjährige wissenschaftliche Untersuchungen werden unterbrochen und können keine konsistenten Ergebnisse liefern.
Der Bundesverband RIAS, die Beratungsstelle OFEK und die Opferberatungsstellen des VBRG wirken maßgeblich an der Sensibilisierung der Öffentlichkeit durch Vermittlungsmaßnahmen mit und tragen zur Professionalisierung der Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden sowie Verwaltung und formaler Bildung bei. Auch das Kompetenznetzwerk Antisemitismus (KOMPAS), in dem unter anderen sowohl der Bundesverband RIAS als auch das Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung in Trägerschaft der ZWST organisiert sind, ist von der fehlenden Einigung betroffen.
Im Ergebnis werden zahlreiche Mitarbeitende der Beratungs- und Dokumentationsstellen ab dem 1. Januar 2024 arbeitslos sein. Dieser Umstand führt zum Verlust hochprofessioneller Fachkräfte und gefährdet die etablierten Arbeitsabläufe. Hochqualifizierte Mitarbeitende sind drei Wochen vor Jahresende massiv verunsichert und stehen vor existenziellen Nöten. Wir halten dies für einen unzumutbaren Zustand.
Wir fordern Sie daher auf:
Sorgen Sie dafür, dass die Arbeit der Träger nicht unterbrochen werden muss. Stellen Sie die notwendigen Mittel schnellstmöglich bereit, um die Arbeit weiterführen zu können!
Gewähren Sie den Zuwendungsempfängern von „Demokratie Leben!“ und anderen Programmen der Prävention und Demokratieförderung einen vorzeitigen Maßnahmenbeginn zum 1. Januar 2024!
In einer Situation wie nach dem 7. Oktober 2023 die Finanzierung von Beratungs- und Meldestellen für antisemitische Vorfälle auszusetzen, ist ein falsches Signal. Die Entscheidung der Bundesregierung gefährdet die Existenz zivilgesellschaftlicher Organisationen und Verbände insgesamt, die sich zum Teil seit mehr als zwei Jahrzehnten für Demokratie und gegen Antisemitismus und Rassismus einsetzen. In der Konsequenz werden auch Betroffene von Antisemitismus unter den Auswirkungen der Haushaltssperre unmittelbar leiden.
Ohne eine Entscheidung in dieser Woche müssen die Anlaufstellen ihre Arbeit zum Großteil aussetzen. Vergangene Woche, am ersten Tag von Chanukka, haben Sie, Herr Bundeskanzler Scholz, deutlich an alle Bürger_innen appelliert, den Kampf gegen Antisemitismus zu unterstützen. Seien Sie ein Vorbild für die Bürger_innen und verleihen Sie ihrem Versprechen eines „Nie Wieder!“ jetzt Kraft! Andernfalls werden Sie sich fragen lassen müssen, welches Signal von ihrer Bundesregierung in Richtung der Jüdischen Gemeinschaft und jener Kräfte, die Jüdinnen_Juden anfeinden und vernichten wollen, ausgeht.
Mit freundlichen Grüßen
Marina Chernivsky – Geschäftsführerin Beratungsstelle OFEK e. V. / Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung
Heike Kleffner – Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) e. V.
Benjamin Steinitz – Geschäftsführer des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e. V.