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Redebeitrag auf der Gedenkkundebung "2 Jahre Hanau"
Auf der Gedenkkundebung "2 Jahre Hanau" hat unsere Beraterin Özge Sarp einen Redebeitrag gehalten. Wir danken den Veranstalter*innen für die Einladung und Organisation der Gedenkveranstaltungen am 19. Februar 2022 in Berlin.
Hallo, herkese merhaba!
Ich lebe seit fast 12 Jahren in Berlin und seit fast 10 Jahren bin ich in der antirassistischen Arbeit aktiv. Mein Leben und meine Migrationsgeschichte ist hier nicht wichtig. Wichtig aber ist meine Konfrontation mit Rassismus und tödlicher rassistischer Gewalt in Deutschland.
Ich kann nicht mehr zählen, wie viele Gedenktage mir bekannt sind, wie vielen Opferangehörigen ich begegnet bin. Mustafa Turgut, dem Bruder des durch NSU Terror ermordeten Mehmet Turgut. Mevlüde Genç, der Überlebenden des Brandanschlags von Solingen 1993, İbrahim Arslan und seiner Familie, Überlebende des Möllner Brandanschlags 1992, Gülistan Avcı, Hinterbliebene des ermordeten Ramazan Avcı, 1985 in Hamburg und Familienangehörigen des 1989 in Berlin ermordeten Ufuk Şahin. Und den vielen Familienangehörigen, die ihre Väter, Ehemänner und Söhne durch die rassistischen Verbrechen des NSU verloren haben - in den Städten München, Rostock, Kassel, Hamburg, Dortmund ... Ich kann nicht mehr zählen wie oft ich in Gerichtsprozessen mit Opfern rassistischer Gewalt dabei war. Wie viele Gesichter und welche Geschichten sind mir bekannt. Gefühlt jeden Tag ist Deutschland Schuld. An jedem Ort gibt es Opfer.
Hanau steht in dieser Kontinuität, ist Teil dieser rassistischen Struktur in Deutschland. Auch deshalb ist Hanau überall.
Nun arbeite ich seit einigen Jahren als Opferberaterin bei ReachOut. Ich begrüße Sie im Namen von ReachOut. ReachOut ist eine Opferberatungsstelle für Menschen, die von rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt und Bedrohung betroffen sind. Von rassistischem Mobbing in den Schulen bis zu Racial Profiling, also rassistischen Polizeikontrollen und Polizeigewalt, von rassistischen Angriffen im öffentlichen Raum bis zu tödlichen Fällen ...
Wir sind fast tagtäglich mit Menschen bzw. Betroffenen und Ratsuchenden zusammen, für die Rassismus und rassistische Beleidigungen, Bedrohungen und Gewalt real und alltäglich sind. Von manchen Angriffen, Anschlägen oder Bedrohungen erfährt nicht nur unsere Beratungsstelle, sondern auch die breite Öffentlichkeit. Von vielen aber nicht. Höchstens als Angriffszahl.
Damit die Öffentlichkeit von Rassismus und seiner tödlichen Dimension erfährt, müssen die Opfer selbst oder die Opferangehörigen sich viel Mühe geben. Für Aufklärungsarbeit, Gerechtigkeit und würdiges Gedenken müssen sie lang und kraftvoll kämpfen. Selbst in ihrer Zeit der Trauer müssen sie dafür kämpfen, dass sie oder ihre verlorenen Angehörigen als Opfer anerkannt werden. Dafür, dass die Polizei ihre Arbeit macht, müssen sie kämpfen. Ob es von Seiten der Politik wieder leere Versprechen gibt oder Konsequenzen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene gezogen werden, auch hierfür müssen sie kämpfen.
Wenn es keine Bilder oder Videos über die Taten zu sehen gibt, scheint es für die weiße Dominanzgesellschaft schwer vorstellbar, was es eigentlich alles in Deutschland gibt und was passiert, dass alles keine Einzelfälle sind, dass rassistische Gewalt überall und alltäglich Menschen trifft. Aufgrund der weißen Privilegien ist es schwer anzuerkennen, dass manche Menschen tagtäglich um ihr Leben fürchten müssen.
Während der NSU in den Jahren 2000-2007 Menschen in ganz Deutschland ermordete, wussten die Angehörigen nicht, warum. Sie hatten aber die Vermutung, dass es sich um rassistische Morde handeln (könnte). Bis zum öffentlichen Bekanntwerden des NSU waren die Toten 11 Jahre lang nicht als Opfer anerkannt.
2013 hat Deutschland in München angefangen, diese Morde juristisch zu verhandeln. Aber in ganz Deutschland, in den Medien wurde das Ganze zum großen Teil täter*innenfokussiert diskutiert. Es wurde gesagt, dass alles getan wird bis zur vollständigen Aufklärung. Diese hat aber weder juristisch noch politisch stattgefunden.
Nach dem NSU folgten viele weitere Taten ... Halle, Hanau ... Die Opfer des Hanauer Anschlags hat Deutschland als Opfer anerkannt. Es ist aber jetzt der völlig falsche Ansatz zu sagen, dass es, weil es in Hanau nur einen Einzeltäter gab und mit seinem Tod niemand vor Gericht kommt, es auch keine Unterstützer*innen gibt, Hanau damit aufgeklärt ist und Deutschland das aufgearbeitet hat. Auf diese Art will Deutschland Hanau schnell vergessen, die Medien wollen nicht mehr davon berichten. Denn es gibt keine*n (lebenden) Täter*in mehr? Wie kann die Polizei sich von ihrer Verantwortung am Tatabend zurückziehen? Politische Verantwortliche dürfen ihre Rolle für den rassistischen politischen Diskurs jeden Tag in Deutschland nicht klein halten/schreiben. Wer ist denn verantwortlich für rassistische Praxen, Durchsuchungen durch die Polizei? Was ist der eigene Anteil der Medien, deren Schlagzeilen Menschen kriminalisieren? Die Treffpunkte, Shishabars, Cafes, die von Migrant*innen, Menschen of Color oder Schwarzen Menschen als sichere Orte gesehen und erlebt werden, dürfen weder in Hanau noch in Berlin-Neukölln oder sonst irgendwo kriminalisiert werden.
Großen Dank für die Aufklärungsarbeit von Opferangehörigen und Überlebenden des Hanauer Anschlags. Mit ihnen wissen wir vieles. Großen Respekt für ihre Kraft. Dank an die Antirassistische Bildungsinitiative Ferhat Unvar und die Mutter und Hinterbliebene, Serpil Unvar, die Initiative 19. Februar Hanau und alle solidarischen, kämpferischen Menschen, die sich für ein würdiges Gedenken heute in Berlin und überall in Deutschland einsetzen.