Veröffentlichungen
Redebeitrag anlässlich der Solidaritätskundgebung unter dem Motto „Schaut nicht weg“
Redebeitrag, den unsere Kollegin Özge Sarp anlässlich der Solidaritätskundgebung unter dem Motto „Schaut nicht weg“ für Dilan S. am 20. Februar 2022 gehalten hat
ReachOut erklärt sich solidarisch mit Dilan und allen anderen Opfern rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt – den bekannten und den unbekannten
Datum: 19.03.2021 / Tatort: Berlin-Prenzlauer Berg Tramlinie M2
Zwei 13-jährige Jungen werden in der Tram der Linie M2 in der Nähe der Haltestelle Prenzlauer Allee von einem unbekannten Mann rassistisch beleidigt. Einer der Jugendlichen wird von dem Unbekannten mit einer Glasflasche geschlagen und verletzt. (Quelle: Polizei Berlin, Berliner Zeitung)
Habt Ihr davon mitbekommen? Kennt Ihr die Opfer?
Hallo, herkese merhaba!
Ich arbeite als Opferberaterin bei ReachOut und begrüße Sie im Namen meiner Kolleg*innen. ReachOut ist eine Opferberatungsstelle für Menschen, die von rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt und Bedrohung betroffen sind. Von rassistischem Mobbing in den Schulen bis zu Racial Profiling, also rassistischen Polizeikontrollen und Polizeigewalt, von rassistischen Angriffen im öffentlichen Raum bis zu tödlichen Fällen ...
Wir begegnen fast tagtäglich Menschen bzw. Betroffenen und Ratsuchenden, für die Rassismus und rassistische Beleidigungen, Bedrohungen und Gewalt real und alltäglich sind. Von manchen Angriffen, Anschlägen oder Bedrohungen erfährt nicht nur unsere Beratungsstelle, sondern auch die breite Öffentlichkeit. Wie von dem Angriff auf Dilan. Von vielen aber nicht. Wie der Angriff auf zwei Kinder, den ich eben zu Beginn benannt habe. Solche Angriffe gehen nur als Angriffszahl in die Statistiken ein.
Damit die Öffentlichkeit von Rassismus und seinen tödlichen Dimension erfährt, müssen die Opfer selbst oder Opferangehörige sich viel Mühe geben. Für Aufklärungsarbeit, Gerechtigkeit und würdiges Gedenken müssen sie lang und kraftvoll kämpfen. Selbst in ihrer Zeit der Heilung oder Trauer müssen sie dafür kämpfen, dass sie oder die Angehörigen, die sie verloren haben, als Opfer anerkannt werden. Dafür, dass die Polizei ihre Arbeit macht, müssen sie kämpfen. Ob es von Seiten der Politik wieder leere Versprechen gibt oder Konsequenzen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene gezogen werden, auch hierfür müssen sie kämpfen.
Wenn es keine Bilder oder Videos über die Taten zu sehen gibt, scheint es für die weiße Dominanzgesellschaft schwer vorstellbar, was es eigentlich alles in Deutschland gibt und was passiert - dass alles keine Einzelfälle sind, dass rassistische Gewalt überall und alltäglich Menschen trifft. Aufgrund der weißen Privilegien fällt es schwer anzuerkennen, dass manche Menschen tagtäglich um ihr Leben fürchten müssen.
Am 6. Februar, also ein Tag nach dem Angriff auf Dilan, habe ich auf unserer Twitter-Seite einen Bericht gesehen. Die Berliner Zeitung berichtet unter der Überschrift: „Berlin: Sechs Fahrgäste schlagen Jugendliche krankenhausreif“
„In einer Straßenbahn kam es zunächst zum Streit mit einer 17-Jährigen. Als alle ausstiegen, prügelten die Erwachsenen plötzlich auf das Mädchen ein.“
6 Erwachsene und eine 17-Jährige. Allein diese Schlagzeile hat mich zum Weiterlesen des Berichts motiviert. Denn es geht bei Gewaltfällen um Machtverhältnisse. Und insbesondere bei Gewalt gegen Frauen* und/oder rassistischen Gewalttaten spielt gesellschaftliche Ungleichheit eine große Rolle. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf habe ich auf den Link geklickt und den Bericht bis zum Ende gelesen.
„Sechs Fahrgäste einer Straßenbahn haben in Prenzlauer Berg eine Jugendliche zusammengeschlagen, weil sie keine Mund-Nasen-Bedeckung getragen haben soll. Nach Angaben der Polizei sei die 17-Jährige am Samstagabend gegen 20 Uhr in der Tram der Linie M4 unterwegs gewesen, als sie von den Erwachsenen auf ihr Fehlverhalten angesprochen wurde. Die Stimmung sei sofort sehr aggressiv gewesen. Als es daraufhin zum Streit kam, hätten zwei Frauen aus der Gruppe das Mädchen rassistisch beleidigt.“ So konnte ich im Bericht sozusagen zwischen den Zeilen lesen, dass die 17-Jährige rassistisch beleidigt wurde. In diesem Moment ist mir klar geworden, dass es sich um einen rassistisch motivierten Angriff handelt.
Uns als Opferberatungsstelle ist bekannt, wie sich rassistische Angriffe ereignen. In zahlreichen Fällen beginnt es mit Gesichtsausdrücken, Gesten und Mimik, Kopfschütteln, welche die erste Botschaft senden, dass die Menschen, die als nicht von hier, als Fremde gelesen werden, hier unerwünscht sind. Dies bewirkt, dass Opfer sich fremd, unerwünscht oder nicht-zugehörig fühlen. Dann folgen die sprachliche Erniedrigung und Beleidigungen. Mit solchen Botschaften werden jetzt nicht nur die Betroffenen adressiert, sondern die gesamte umgebende Gesellschaft, dort wo der Angriff passiert. Ob hier, zu diesem Zeitpunkt erste Reaktionen von Anwesenden kommen oder ob die Anwesenden das Geschehene überhaupt wahrnehmen, kann darüber entscheiden, ob die Täter ihre Worte zu Taten führen. Für rassismuserfahrene Menschen sind diese Szenen bekannt. In vielen der uns bekannten Fällen bleiben Opfer mit dem Geschehen alleine und das Ganze endet in körperlicher Gewalt.
Dies hat Folgen für die Opfer: Vom ersten Moment bis zur tätlichen Gewalt - hier kann es sich um Sekunden handeln oder auch lange Minuten - zeigen die Körper der Opfer Reaktionen und entwickeln Überlebensstrategien. Spürt der Körper den Angriff, verzweifelt und sucht nach Gründen: warum, was habe ich getan? Entscheidet dann schnell zwischen Ignorieren, Weggehen oder sich dagegen Wehren. Checkt. Wirft Blicke in die Umgebung. Um zu erfahren oder wahrzunehmen, ob andere Menschen vor Ort reagieren, beobachten. Ob sie für die gerade geschehende Tat anwesend sind.
Angriffsfolgen beginnen nicht erst nach dem tätlichen Angriff. Während der gesamten Angriffssituation, von der allerersten Markierung durch die Täter bis zum körperlichen Angriff kämpfen die Opfer dagegen. Das ist eine enorme Stresssituation, welche die Angegriffenen auch danach sehr beschäftigen. Kurz- und Langzeitfolgen zeigen sich bei Opfern unterschiedliche. Auch im Umgang damit unterscheiden sie sich. Manche gehen mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit, wie Dilan. Andere ziehen sich vor der Gesellschaft zurück. Psychische Belastungen, Angstzustände, die Vermeidung von bestimmten Orten, Schlafstörungen, Hilflosigkeit treten häufig auf. Für die Verarbeitungs- und Bewältigungsprozesse kann es sehr bedeutsam sein, ob die Opfer in der Angriffssituation und danach allein gelassen wurden oder nicht. Ob jemand sich als Zeug*in zur Verfügung stellt oder nicht. Ob sie als Opfer behandelt werden oder nicht.
Liebe Dilan, nachdem du das Video öffentlich gemacht hast, habe ich zwei Anrufe bekommen. Ein Anruf von einer Überlebenden des Hanauer Anschlags vom 19. Februar 2020, der andere von einem Opfer eines rassistischen Angriffs in Berlin vor anderthalb Jahren. Beide stehen mit unserer Beratungsstelle in Verbindung. Sie haben mir jeweils erzählt, was dein Erlebnis mit ihnen gemacht hat. Nicht nur weil ihre eigenen Erinnerungen hochgekommen sind und sie dadurch belastet waren. Sondern vielmehr, wie du zum Tatzeitpunkt allein gelassen wurdest und wie die Polizei und die Medien nach der Tat mit dir/der Tat umgegangen sind. Auch sie haben ähnliche Erfahrungen gemacht wie du. Opferangehörige, die durch die rassistischen NSU-Verbrechen ihre Väter und Söhne verloren haben, Überlebende des Bombenanschlags in der Kölner Keupstrasse, sowie İbrahim Arslan und seine Familie, die 1992 bei dem rassistischen Brandanschlag in Mölln 3 Familienangehörige verloren haben, benannten dies als "zweiten Anschlag". Der erste Anschlag ist die Tat selbst, der zweite ist das durch Polizei, Medien und Gesellschaft zum zweiten Mal Opfer-Werden.
Liebe Dilan, Deine Erfahrung mit diesem zweiten Anschlag ist bei vielen angekommen und hat Bedeutung. Du bist nicht allein. Wir sind mit dir. Du bist jetzt bei vielen!